Die Geschichte Russlands und der Sowjetunion prägen Dmitri Schostakowitschs Werke in vielerlei Hinsicht, vor allem in seiner sinfonischen Musik. Mehrere der 15 Sinfonien des Russen beziehen sich unmittelbar auf historische Ereignisse: Den Zweiten Weltkrieg [Sinfonie Nr. 7 „Leningrad“ (1942), Sinfonie Nr. 8 (1943), Sinfonie Nr. 13 „Babij Jar“ (1962)] und die bolschewistische Revolution [Sinfonie Nr. 12 mit dem Untertitel „Das Jahr 1917“ (1961), welche Lenin gewidmet ist]. Mit der Sinfonie Nr. 11 spricht der Komponist ein noch früheres Ereignis der Geschichte des Landes an, nämlich die Revolution von 1905 – einen landesweiten, sozialen Aufstand gegen die absolutistische Herrschaft des Zaren und die Unterdrückung durch Landbesitzer und Fabrikanten. Die Revolution veranlasste einen politischen Wandel in Russland, welcher wiederum in die Februar- und Oktoberrevolution von 1917 mündete. Die Premiere der Sinfonie Nr. 11 in G Moll mit dem Untertitel „Das Jahr 1905“ fand am 30. Oktober 1957 in Moskau während der Feierlichkeiten anlässlich des 40. Jubiläums der Oktoberrevolution statt. Das Staatliche Sinfonieorchester stand unter der Leitung von Natan Rachlin, und die Aufführung am 3. November in Leningrad wurde von Jewgeni Mrawinski dirigiert.

Dieses Stück von vier Sätzen (welche attaca gespielt werden sollten) dauert etwa eine Stunde. Trotz der traditionellen Struktur ähnelt die Form eher einem sinfonischen Gedicht und die Titel und Inhalte der einzelnen Sätze weisen direkt auf spezifische Episoden der Geschichte hin.

Der erste Satz, Der Palastplatz, ist ein kaltes chorales Adagio, welches dem Zuhörer eine erste Ahnung von der vorherrschenden Atmosphäre des Stückes vermittelt. Die Streicher übernehmen hier die Führung, begleitet von dem unheilvollen Grollen der Pauken und den Signalen der Blechbläser, welche sich von den Pauken wie ein Ruf absetzen.

Der zweite und längste Satz – Der 9. Januar – spielt auf die Ereignisse des „Blutsonntags“ an, welcher am 22. Januar in Sankt Petersburg stattfand. An diesem Tag marschierten Demonstranten zum Winterpalast, um Acht-Stunden-Werktage und eine Amnestie für politische Gefangene zu fordern. Ihre Absicht war es, dem Zar eine Petition mit über 135.000 Unterschriften persönlich zu überreichen. Allerdings attackierten seine Streitkräfte die fast 100.000 Menschen umfassende Menge. Mehr als 1.000 Menschen (einschließlich Frauen und Kindern) wurden verletzt oder getötet. „Der 9. Januar“ ist der dramatischste Satz des Stückes: Anfangs rast die Musik in einem Höllentempo, verweilt nur einen Moment bei einer gedämpften Melodie der tiefen Streicher, bevor sie wieder ins Unbekannte aufbricht. Und so geht es weiter, durch gehetzte und ruhige Momente, durch Explosionen der Kesselpauken und ernste Streichermotive und sich verdichtende Crescendos der Holzbläser, bis zum auf der Trommel basierenden Höhepunkt, plötzlich abgeschnitten von einer abrupten Stille, welche von einer Rückkehr zu den ersten Themen gefolgt wird. Die Bilder werden in den Köpfen der Zuhörer heraufbeschworen – so ist es keine Überraschung, dass die Sinfonie Nr. 11 manchmal als Film ohne Bilder beschrieben wird, als ein Soundtrack, welchem absichtlich das Filmtape fehlt.

Der dritte Satz, Ewiges Andenken, vom Wesen wieder ein beruhigendes Adagio, ist eine Klage über Gewalt. Die Musik basiert auf dem revolutionären Trauermarsch „Ihr seid dem tödlichen Kampf zum Opfer gefallen“ (dies ist übrigens nicht das einzige Zitat aus Liedern der Revolution), unterbrochen nur durch eine Explosion der Instrumente, welche das Material aus dem zweiten Satz der Sinfonie nutzen. Das Erscheinen des revolutionären Liedes in verschiedenen Teilen mit seinem farbenfrohen und bedrohlichen Kontrapunkt bezeugt des Komponisten meistervolle Beherrschung der Poliphonie.

Schließlich ist es Zeit für das Finale – Sturmgeläut. Es beginnt mit einem schallenden Marsch, welcher in den ersten Höhepunkt übergeht. Dieser endet mit der nachdrücklichen Melodie des Englisch Horns. Der zweite Marsch führt zum Alarm, welcher von der namengebenden Glocke (wieder Kesselpauken) geschlagen wird und zu einem erneuten Höhepunkt, den Schostakowitsch mithilfe eines harmonischen Missklangs konstruiert: Die Glocke schlägt in G Moll Alarm, während das Orchester in G Dur spielt. Die Lösung bringt eine Musik, die die Ereignisse des Jahres 1917 erahnen lässt.

Schostakowitsch zitiert neun Lieder der Revolution in seiner Sinfonie. Manche davon stammen aus dem 19. Jahrhundert, während andere im Jahre der Revolution geschrieben wurden. Es finden sich in der Sinfonie unter anderem die „Warschawjanka“ und die Lieder „O Du, Unser Zar, Unser Vater“ und „Entblößt eure Köpfe“, welche als Grundlage der Höhepunkte im zweiten, dritten und vierten Satz dienen und in gewisser Hinsicht am wichtigsten für die Struktur des Stückes sind. Am bedeutsamsten ist jedoch die Art, in der Schostakowitsch das traditionelle Material in sein Werk einarbeitete – Material, welches er sehr gut kannte, da er die Lieder der Revolution als Kind oft zuhause gehört hatte.

Das Werk ist ein offensichtliches Beispiel für Programmmusik. Es sollte daher nicht überraschen, dass die Sinfonie Nr. 11 als eines der charakteristischsten Exemplare aus dem späten sozialistischen Realismus angesehen wird. Der Komponist selbst behandelte sie jedoch wie ein sehr persönliches Werk und wies auf Referenzen an Modest Mussorgski im zweiten Satz hin, ersichtlich in der Art und Weise, in der die Tragödie der Nation präsentiert wird. Die Ereignisse des Blutsonntags dienen dem Komponisten wiederum als Vorwand, um die Geschichte der aggressiven Behandlung Ungarns durch die Sowjetunion im Jahr 1956 darzustellen.

Die Sinfonie Nr. 11 brachte dem Komponisten zahlreiche staatliche Preise ein, am bekanntesten darunter der Lenin Preis (1958). Im Mai 1958 wurde Schostakowitsch zum Mitglied der Nationalen Akademie der Heiligen Cäcilia in Rom und war der erste Ausländer, dem der französische Titel des Kommandeurs des Orden der Künste und der Literatur verliehen wurde (aus diesem Anlass wurde die Sinfonie Nr. 11 in Paris unter großem Beifall aufgeführt). Im Juli desselben Jahres wurde ihm ein Ehrendoktortitel der Oxford University verliehen und gegen Ende des Jahres gewann er als dritter Komponist überhaupt den Sibelius Award (der erste war Igor Strawinsky und der zweite – Paul Hindemith). Vielleicht waren diese Erfolge der Grund, dass Schostakowitsch sich entschied, die Operette "Moskau, Tscherjomuschki" zu komponieren...