Die menschliche Vorstellungskraft hilft uns, Geschichte greifbar zu machen: Sie erschafft Erzählungen, um das Unbekannte zu verstehen und dem Gefürchteten einen Sinn zu geben. Im Krieg werden solche Legenden – mal banal, mal erschreckend – zu Trägern von Emotionen und zu Deutungswerkzeugen. Heute kann Propaganda – insbesondere die russische – kollektive Vorstellungen instrumentalisieren, um Ängste zu schüren, Chaos zu stiften und ein verzerrtes Bild der Realität zu zeichnen. So war es im Zweiten Weltkrieg – und so ist es auch im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Flavia Tosi verbrachte die Zeit des Zweiten Weltkriegs in der Stadt Novara im Nordwesten Italiens. In ihren Erinnerungen taucht immer wieder das Motiv eines geheimnisvollen, unerreichbaren Flugzeugs auf, das nachts über der Stadt gekreist haben soll. Die Maschine hieß „Pippo“ – und obwohl niemand sie je aus der Nähe gesehen hatte, hatte doch jeder von ihr gehört. Sie war Sinnbild für Unruhe, für Gefahr – aber auch für den Alltag unter Besatzung.
Britisches Bombenflugzeug Mosquito hebt ab vom italienischen Flugplatz in Foggia, 6. November 1944. Gemeinfrei. Quelle: Imperial War Museums / Wikimedia Commons

„Pippo war ein Flugzeug, das von Zeit zu Zeit einfach auftauchte. Niemand wusste, ob es feindlich oder freundlich, deutsch, amerikanisch oder italienisch war.
Es warf keine Bomben ab. Es schoss nicht. Es flog nur vorbei – und verschwand wieder.
Menschen hörten es in der Nacht. Jemand flüsterte: ‚Es ist Pippo‘ – und plötzlich fühlten alle dieselbe Unruhe.“[1]

Dieses Zitat stammt aus den Erinnerungen der Italienerin Flavia Tosi, die ihre Kindheit im von den Deutschen besetzten Novara verbracht hat. Obwohl „Pippo“ wahrscheinlich nie wirklich existierte, wurde das Flugzeug zu einem Teil des kollektiven Gedächtnisses – als Symbol der Unruhe, der Ruhe vor dem Sturm und der kindlichen Ängste, die sich in das Motorengeräusch einer hoch oben am Himmel vorbeiziehenden Maschine kleideten.

In den 1990er Jahren initiierte der italienische Fernsehsender RAI Tre die Kampagne „La mia guerra“ („Mein Krieg“), um Berichte aus dem Alltagsleben während des Zweiten Weltkriegs – insbesondere aus der Zeit der deutschen Besatzung 1943–1945 – zu sammeln.

In vielen der eingesandten Erinnerungen tauchte ein Motiv immer wieder auf: das nächtliche Flugzeug „Pippo“. Es war überall und nirgends. Niemand wusste, auf wessen Seite es stand oder welchen Auftrag es verfolgte. Doch seine gefühlte Präsenz war real – denn „Pippo“ stand für etwas Tieferes als Fakten: für Angst, Wachsamkeit, für die ständige Spannung des Lebens im Schatten des Krieges. „Pippo“ ist zugleich ein Beweis für die Kraft der Vorstellung: für ihre Fähigkeit, Tatsachen zu erschaffen, die die offizielle Geschichtsschreibung ergänzen. Ein Beispiel dafür, wie die Vorstellungskraft Lücken der Geschichte füllen kann, indem sie alternative Versionen von Ereignissen formt – nicht unbedingt faktisch korrekt, aber emotional wahr für jene, die sie erlebt haben. Es zeigt auch: Erinnerung gründet nicht immer auf Tatsachen. Manchmal erschafft sie eigene Wahrheiten. Solche, die leichter zu ertragen sind.

Kriegslegenden als Propagandawerkzeug

Professor Alan R. Perry vom Gettysburg College, Spezialist für Erinnerungsforschung, weist auf etwas scheinbar Banales, aber äußerst Wichtiges hin: In den Zeiten der beiden Weltkriege gehörten Legenden und Gerüchte zum Alltag. In den Schützengräben kursierten unaufhörlich Meldungen – etwa, dass die Truppen bald von der Front abgezogen würden oder dass jemand Fronturlaub erhalte. Auch über den Gegner entstanden Erzählungen: Einerseits wurde er als grausam und unmenschlich dargestellt – so kursierte die Geschichte, der Feind verwende die Leichen der Gefallenen zur Herstellung von Kerzen und Schmiermitteln. Andererseits berichtete man von überraschenden Momenten der Menschlichkeit und des Wohlwollens. Während des deutschen Überfalls auf Frankreich 1940 etwa verbreitete sich die Erzählung, dass sich Soldaten beider Seiten an Brunnen getroffen hätten: um gemeinsam Wasser zu schöpfen, sich gegenseitig nach dem Weg zu den eigenen Linien zu erkundigen – und einander sogar … vor bevorstehenden Angriffen zu warnen.[2]

Obwohl viele Kriegserzählungen oft auf Unwahrheiten beruhten, wurden sie gelegentlich in die offizielle politische und religiöse Propaganda integriert. Zwei bekannte Legenden liefern hierfür eindrucksvolle Beispiele: die „Engel von Mons“ und das „Wunder an der Weichsel“.

Im August 1914 sollen britische Truppen bei Mons (Belgien), die von deutschen Kräften eingekreist waren, durch das Eingreifen von Engeln gerettet worden sein, die über dem Schlachtfeld erschienen und den deutschen Angriff gestoppt hätten. Diese Geschichte wurde vom walisischen Mystiker und Schriftsteller Arthur Machen verbreitet und das britische Boulevardblatt „The Sun“ griff sie sogar noch 2001 auf.

Ähnlich erzählt die Legende vom „Wunder an der Weichsel“, dass 1920 die Offensive der Bolschewiki auf Warschau zusammengebrochen sei, weil ein Bild Mariä am Himmel erschienen sei. In beiden Fällen wurden die Berichte politisch gefördert und instrumentalisiert – als Zeichen, dass übernatürliche Kräfte hinter den eigenen Truppen stünden. Im polnischen Fall erhielt die Legende noch eine zusätzliche politische Funktion: Der Ausdruck „Wunder an der Weichsel“ wurde von Stanisław Stroński, einem rechtsgerichteten Publizisten und Gegner Józef Piłsudskis, geprägt. Stroński behauptete, nicht die militärische Führung, sondern göttliche Intervention habe Warschau gerettet. Auf diese Weise gelang es der nationalen Rechten, Piłsudski und die Linke zu diskreditieren, indem sie den Sieg übernatürlichen – und nicht politischen oder militärischen – Ursachen zuschrieb.

Der Holzschnitt von Władysław Żurawski (1888–1963) aus den 1930er Jahren veranschaulicht auf eindrucksvolle Weise die Verbindung zwischen Krieg und Übernatürlichem in der Erinnerung an die jüngste Geschichte. Im Zentrum der Grafik steht die Personifikation der Freiheit beziehungsweise des kämpfenden Polens. Durch die ausgebreiteten Flügel des Adlers aus dem Staatswappen nimmt diese Figur die Gestalt eines Engels an. Das Bewusstsein um die Bedrohung der Unabhängigkeit und patriotische Gefühle verschmelzen hier mit der Vorstellung einer übernatürlichen Dimension. Bemerkenswert ist, dass in Żurawskis Werk das Bildnis der Gottesmutter fehlt – ein Motiv, das in der rechten und kirchlichen Propaganda eine zentrale Rolle in der Legende vom „Wunder an der Weichsel“ spielte.
 
Zum 10. Jahrestag der Schlacht bei Warschau hat Jerzy Kossak das Bild „Das Wunder an der Weichsel“ gemalt – ein Werk, das zu einer Ikone der patriotischen Vorstellungskraft wurde. Außer der deutlich erkennbaren göttlichen Intervention, die den Polen den Sieg ermöglicht haben soll, brachte Kossak auf dem Bild die Figur Piłsudskis unter (sichtbar im Hintergrund an der Spitze der Kavallerie), obwohl sich der polnische Marschall am 15. August in seinem Hauptquartier aufhielt und an den Kämpfen nicht teilnahm. Der Maler fügte auch historische Bezüge hinzu: Maria führt Elite-Husarentruppen zum Kampf an, die an die glorreiche Tradition der polnischen Streitkräfte erinnern. [3]

Gerüchte, Legenden und urbane Fantasien begleiteten im Krieg nicht nur die Soldaten – auch die Zivilbevölkerung erschuf eigene Geschichten, um den Alltag unter den Bedingungen von Besatzung und Bedrohung erträglicher zu machen. Im Zweiten Weltkrieg kursierten in Prag Erzählungen über eine geheimnisvolle Gestalt: Pérák. Er soll unvermittelt aus dunklen Gassen aufgetaucht sein und Passanten erschreckt haben.

Pérák wurden übermenschliche Fähigkeiten zugeschrieben: Er soll imstande gewesen sein, riesige Sprünge zu vollführen, den Patrouillen der Gestapo zu entkommen und spurlos zu verschwinden. Aus heutiger Sicht könnte man sagen: Pérák war ein tschechischer Superheld – eine Figur im Grenzbereich zwischen Furcht, Hoffnung und Fantasie.[4]

 

 

 

 

Ein Mural mit Pérák in Prag (2022). Fot. JiriMatejicek, CC BY-SA 

Urbane Kriegslegenden in der Zeit der Smartphones: Angriffskrieg gegen die Ukraine

Obwohl wir heute im Zeitalter des Internets leben, sind Kriegslegenden keineswegs verschwunden – sie sind lediglich ins Netz umgezogen. Auch gegenwärtige Kriege bringen Mythen, Gerüchte und Geschichten hervor, die sich dank der viralen Kraft der sozialen Medien in rasantem Tempo verbreiten und große Wirkung entfalten. Ein Beispiel dafür ist die Legende von den sogenannten Belyje Kolgotki – den „Weißen Strumpfhosen“ –, die seit den 1990er Jahren in der russischen Armee kursiert. Dabei handelt es sich angeblich um schöne, ganz in Weiß gekleidete Scharfschützinnen aus den baltischen Staaten, die an der Front Angst und Schrecken verbreitet hätten. Diese Erzählung tauchte nicht nur im Zusammenhang mit den Kriegen in Tschetschenien und gegen Georgien auf, sondern lebt auch an den Frontlinien des aktuellen Ukraine-Krieges weiter.[5]

Eintrag über den „Geist von Kiew“ auf dem Regierungsprofil der Ukraine auf Twitter/X. 27. Februar 2022, https://x.com/Ukraine/status/1497834538843660291.

Im Februar 2022 verbreitete sich eine andere Geschichte weltweit: die Legende vom mysteriösen Piloten der ukrainischen Luftwaffe, der angeblich an Bord einer MiG-29 im Alleingang zehn russische Kampfflugzeuge abgeschossen haben soll. Diese Erzählung wurde zunächst sogar von ukrainischen Geheimdiensten bestätigt, die ein Video veröffentlichten, das den heldenhaften Luftkampf des Piloten zeigen sollte. Einige Monate später musste jedoch eingeräumt werden, dass die Geschichte nicht der Wahrheit entsprach: Der „Geist von Kiew“ hatte nie existiert. Stattdessen handelte es sich um eine symbolische Figur – eine Verkörperung des „gemeinsamen Geistes der hervorragend trainierten Piloten“ der ukrainischen Luftwaffe.[6] Und das Video, das im Internet kursierte? Es stammte aus einem Computerspiel – einem Jagdflugzeugsimulator auf YouTube.[7]

Zweifelsohne wurde die Figur des „Geistes von Kiew“ erschaffen, um die Moral der Ukrainer in den ersten, schwierigsten Wochen der russischen Invasion zu heben.[8] Angesichts der enormen militärischer Überlegenheit Russlands – insbesondere in der Luft – sorgte die Geschichte vom einsamen Piloten, der immer wieder feindliche Maschinen abschießt, für das Gefühl, dass der Kampf nach wie vor ausgeglichen sei. Sie war notwendig. Und traf die Stimmung in der Bevölkerung.

Propagandainspirierte Vorstellungen

Der russische Aggressor macht sich konsequent moderne Sagen, Falschmeldungen und Internet-Hoaxes zunutze, um seine Botschaft zu untermauern – sowohl gegenüber den eigenen Mitbürgern als auch der internationalen Meinung. Im Inland sollen derartige Maßnahmen die Moral der Bevölkerung vor dem Hintergrund der sich in die Länge ziehenden „Spezialoperation“ fördern und immer neue Gewaltakte rechtfertigen. Auf der internationalen Eben zielen sie darauf ab, die Ukraine zu diskreditieren und ihre Position als Kriegsopfer in Frage zu stellen.

*HOAX im großen Stil kolportierte, oft von unten entstehende Falschinformation oder Täuschung, die den Empfänger irreführen soll. Derartige Manipulationen sollen Emotionen (Schock, Lachen, Unruhe) hervorrufen bzw. direkt Haltungen und Meinungen formen. Ein Beispiel für derartige Manipulationen können fiktive Nachrichten sein, die am 1. April (Prima Aprilis) versendet werden, erfundene Artikel über Wunderentdeckungen, präparierte Grafiken aus sozialen Medien, Falschmeldungen, die bei Notrufzentralen eingehen.

Nach Meinung von Analytikern basiert die russische Desinformation bezüglich des Krieges in der Ukraine auf fünf Hauptnarrativen:

Hauptbestandteile der Propagandanarrative Russlands in Bezug auf die Ukraine:[9]

  • In der Ukraine dauere ein Bürgerkrieg an
  • Die ukrainische Gesellschaft sei extrem russlandfeindlich
  • In der Ukraine greife der Nazismus um sich
  • Die Ukraine sei ein gescheiterter Staat
  • Die Ukraine sei eine Marionette des Westens

Um diese Narrative herum werden moderne Sagen, Verschwörungstheorien und Desinformationskampagnen entwickelt – gefördert durch prorussische Influencer, Bots und Einflussagenturen.

Eine der perfidesten Manipulationsstrategien Russlands in den ersten Monaten des vollumfänglichen Krieges war eine Kampagne, die dem Westen weismachen sollte, dass es überhaupt keinen Krieg gebe und sämtliche Kampfhandlungen sowie russische Verbrechen lediglich Täuschungen seien.

„Mystifikation von Butscha“? Die russische Propaganda stellt nach wie vor Fakten in Frage

Es sind inzwischen drei Jahre seit dem Massaker in Butscha vergangen – einem im März 2022 von russischen Soldaten an ukrainischen Zivilisten begangenen Verbrechen. Rund 400 unschuldige Menschen kamen damals ums Leben. Trotz zahlreicher Beweise, Fotos, Zeugenaussagen und internationaler Untersuchungsberichte bestreitet Russland bis heute, dass dieses Verbrechen überhaupt stattgefunden hat. Bei einer Sitzung der Vereinten Nationen am 2. April 2025 zweifelte Dmitrij Polianski, erster stellvertretender ständiger Vertreter Russlands, erneut die Geschehnisse in Butscha an. Nach seiner Darstellung habe der Westen eine „Blase von Lügen“ erschaffen, während Russland lediglich versuche, „die Wahrheit zu entdecken“. In diesem Narrativ erscheint nicht die russische Armee als Täter, sondern Russland als Staat wird zum Opfer stilisiert: ein Opfer angeblicher Manipulation, ungerechter Anklagen und gezielter Dämonisierung durch das „Regime in Kiew“ und seine westlichen Verbündeten.

Russische Manipulation der Wahrheit über das Massaker in Butscha (02.04.2025)

Stellen wir uns aber eine einfache Frage: Wissen wir, was in Wirklichkeit vor drei Jahren in Butscha passiert ist? Ist uns die Wahrheit wichtig? Es liegt auf der Hand, dass sie dem Regime in Kiew und seinen westlichen Anhängern gar nicht wichtig ist. Und sie wollen nicht, dass auch andere diese Fragen stellen. Sie fühlen sich ganz bequem in der Blase von Lügen über Russland, die sie seit mindestens zwei Jahrzehnten aufblasen. Und weil der „Hoax Butscha“ einer der Hauptteile dieser Blase ist, bleibt der Westen aggressiv immun gegen alle Versuche, diese Darstellung in Frage zu stellen.

Statement by First Deputy Permanent Representative Dmitry Polyanskiy at a UNSC Arria-Formula Meeting on Disinformation and Sabotage of Peace in Ukraine.

Im Mai 2022 erschien auf Twitter ein Eintrag, der behauptete, die Ukraine fabriziere Berichte über russische Verbrechen und nutze dafür mediale Mystifikationen. Die Autoren des Tweets erklärten, ein Video, das angeblich Kriegsopfer zeige, stamme in Wirklichkeit von einem Klimaprotest in Österreich, bei dem sich Aktivisten im Rahmen eines Happenings „tot stellten“. Der Tweet verbreitete sich rasch, wurde tausendfach geteilt und kommentiert und stärkte damit das Narrativ, die Ukraine manipuliere die Weltöffentlichkeit und inszeniere ein „Kriegstheater“ für die Bedürfnisse westlicher Medien. Quelle: YouTube / Matthew Holroyd, Ukraine war: Five of the most viral misinformation posts and false claims since the conflict began, Euronews, 24.08.2022.

Moderne Propaganda tritt nicht immer in der Form primitiver Agitation auf. Oft appelliert sie an kritisches Denken, an den „gesunden Menschenverstand“ – oder sogar an den Kampf gegen Desinformation. Gerade darin liegt ihre Stärke: Eine Manipulation, die sich skeptisch und aufgeklärt gibt, erreicht eher jene Empfänger, die der Informationsflut, dem Chaos und dem schwindenden Vertrauen in Medien und staatliche Institutionen überdrüssig sind. In Russland greifen moderne Mythen und urbane Legenden immer weiter um sich – teils von der Staatsmacht inspiriert, teils unabhängig von ihr.

Ein markantes Beispiel dafür lieferte das russische Verteidigungsministerium im März 2022:

Damals warf es den ukrainischen Behörden offiziell vor, die Verbreitung biologischer Waffen über Vögel und Fledermäuse zu testen. General Igor Kirillow erklärte auf einer Pressekonferenz, die Migrationsrouten bestimmter Vogelarten über das Staatsgebiet der Ukraine seien gezielt genutzt worden, um etwa die Vogelgrippe H5N1 zu verbreiten.[10] Ein solches Narrativ dürfte eine besonders starke Wirkung auf die russische Bevölkerung entfaltet haben – vor allem in einer Zeit, in der das Land noch unter dem kollektiven Trauma der Corona-Pandemie litt. Die Russische Föderation zählte weltweit zu den Ländern mit den meisten sogenannten überzähligen Todesfällen. Gleichzeitig setzten die staatlichen Stellen auf den eigenen Impfstoff „Sputnik V“ – während der Zugang zu den von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Vakzinen gezielt eingeschränkt oder ganz blockiert wurde.[11] Die Angst vor dem Virus und der biologischen Gefahr erwies sich als ein perfektes Werkzeug, um das Absurde zu legitimieren.

Manche Gerüchte verbreiten sich unabhängig von Maßnahmen der Staatsmacht, fügen sich jedoch nahtlos in Propaganda-Narrative ein. Unabhängig von offiziellen Stellen, aber im Einklang mit der Propagandaerzählung über ukrainische Russophobie und einen „faschistischen Staat“, begann im Februar 2023 in russischen Städten die Legende von einem schwarzen Lada Kalina zu kursieren. Aus dem Auto sollen angeblich unbekannte Männer ausgestiegen sein, die Passanten Parfümproben anboten. Das Einatmen dieser Proben habe zu Vergiftungen geführt, und die Aktion sei von Ukrainern inspiriert und koordiniert worden. Das Gerücht verbreitete sich rasch im Internet und über Messengerdienste. Die Behörden der Stadt Stawropol sahen sich schließlich gezwungen, diese Information offiziell zu dementieren.[12]

Schwarzer Wolga GAZ-21, CC BY-SA Oliver Tank, Wikimedia Commons. In der Zeit des Sozialismus hat beinahe jedes Kind in Ostmitteleuropa die Legende vom schwarzen Wolga gehört – einem Luxusauto des Typs GAZ-21, das nachts unvorsichtige Kinder von den Straßen entführt haben soll. Es war eine düstere Erzählung von Geheimnis und Gefahr, die sich perfekt in die Atmosphäre des Misstrauens und der schweigenden Angst einfügte, welche das Leben in den Ostblockstaaten prägte. Heute kehrt diese Legende wieder – in neuer Fassung und neuem Kontext. 2023 kursierte in Russland eine moderne Sage von Männern, die Parfümproben verteilten, welche angeblich Vergiftungen verursachten. Das Szenario war ähnlich: ein geheimnisvolles Auto, fremde Menschen, eine scheinbar harmlose Tätigkeit – und eine verdeckte Gefahr. Mit dem Unterschied, dass sich die gegenwärtige Variante dieser Geschichte in die offizielle anti-ukrainische Propaganda einfügt. Es handelt sich nicht um eine spontane moderne Sage – sondern um ein emotionales Desinformationswerkzeug, das durch staatliche Narrative verstärkt wird.

Im Januar 2023 haben sich über 9,5 Millionen Personen ein auf Telegram veröffentlichtes Video angeschaut. Der Film sollte beweisen, dass Ukrainer vielfach mit russischen Kindern telefonieren und die Gespräche so manipulieren, dass die Kleinen das Gas in ihren Wohnungen aufdrehen, was zu Explosionen von Wohngebäuden führen könnte. Auch die offiziellen russischen Medien griffen die Geschichte auf, und die Nachrichtenagentur TASS warnte in einer Depesche ausdrücklich „vor möglichen Provokationen gegen Kinder durch ukrainische Nazis“.[13]

Unterdessen haben unabhängige russische Journalisten vom Portal prosleduet.media den Fall dieses Videos geprüft und herausgefunden, dass es 2018 zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Nach Einschätzung mehrerer Beobachter war das plötzliche Aufkommen von Gerüchten über angebliche ukrainische Manipulationen an Kindern eine direkte Reaktion auf den verheerenden russischen Raketenangriff auf ein Wohngebäude in Dnipro. Bei dem Angriff kamen 45 Menschen ums Leben, viele weitere wurden unter den Trümmern vermisst. Das Ereignis sorgte lange für Schlagzeilen in ukrainischen und westlichen Medien.

In diesem Zusammenhang deuteten Journalistinnen und Journalisten die rasche Verbreitung der Legende über „ukrainische Provokationen gegen Kinder“ als eine psychologische Abwehrreaktion – ein Mechanismus, um Schuld umzulenken und das eigene Handeln zu rechtfertigen. Einen solchen Mechanismus hat bereits der amerikanische Anthropologe Alan Dundes beschrieben, als er sich mit der Struktur urbaner Sagen und Mythen befasste. Er schrieb:

„Die Person, die ein Verbrechen begeht, beschuldigt oft ihr Opfer – indem sie ihm schlechte Absichten oder Taten zuschreibt, um das eigene Vorgehen zu rechtfertigen.”

Dieses Schema war unter anderem in mittelalterlichen Legenden vom Ritualmord sichtbar, die als Vorwand für Gewalt gegen Juden dienten.[14]

Zentral gesteuerte Vorstellung? Mythos in Zeiten von Krieg und Internet

Der Krieg spornt seit Jahrhunderten die menschliche Vorstellungskraft an. Unsicherheit, Angst, Gefühl der Bedrohung – und dazu klar bestimmte Feinde und Alliierte – bilden perfekte Voraussetzungen für die Geburt von Mythen, Legenden und modernen Sagen, die oft sehr unglaubwürdig sind. Heute ist dieser Prozess nicht verschwunden. Im Zeitalter der Smartphones und der sozialen Medien ist die Schaffung von neuen Mythen nicht nur einfacher, sondern auch schneller, weitreichender und steuerbarer. Zu Hilfe kommen moderne Werkzeuge zur Manipulation von Bild und Ton, virale Formate und Algorithmen, die das Emotionale, Schockierende oder scheinbar Wahrscheinliche verstärken. Das Ergebnis? Die kollektive Vorstellung kann heute zentral gelenkt werden – beinahe wie die mediale Narration.


Fußnoten

[1] https://cupola.gettysburg.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1000&context=italfac, S. 1–2.

[2] https://cupola.gettysburg.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1000&context=italfac, S. 4.

[3] https://www.rp.pl/wydarzenia/art8765071-cud-nad-wisla

[4] Petr Janeček, Spring Man: A Belief Legend between Folklore and Popular Culture, Lanham 2022, https://rowman.com/ISBN/9781666913750/Spring-Man-A-Belief-Legend-between-Folklore-and-Popular-Culture.

[5] https://en.wikipedia.org/wiki/White_Tights, Brian Whitmore, Myth of Women Snipers Returns, https://www.themoscowtimes.com/archive/myth-of-women-snipers-returns, „The Moscow Times”, 09.10.1999, https://www.themoscowtimes.com/archive/myth-of-women-snipers-returns.

[6] Arijeta Lajka, Ukraine admits ‘Ghost of Kyiv’ fighter pilot is a myth, The Associated Press, 02.05.2022,

https://apnews.com/article/russia-ukraine-kyiv-europe-media-social-cc6e278ae22f37476eb95e5133541047.

[7] Isabel van Brugen, Who is the Ghost of Kyiv? Ukraine MiG-29 Fighter Pilot Becomes the Stuff of Legend, 25.02.2022, https://www.newsweek.com/who-ghost-kyiv-ukraine-fighter-pilot-mig-29-russian-fighter-jets-combat-1682651.

[8] Laurence Peter, How Ukraine’s ‘Ghost of Kyiv’ legendary pilot was born, BBC, 01.05.2025, https://www.bbc.com/news/world-europe-61285833.

[9] Oleksii Polegkyi, Russian disinformation and propaganda before and after the invasion of Ukraine,

„Rocznik Instytutu Europy Środkowo-Wschodniej“ 21 (2023), H. 1, S. 100, https://doi.org/10.36874/RIESW.2023.1.6.

[10] https://www.vedomosti.ru/politics/news/2022/03/10/912950-minoboroni-rf-peredachu-infektsii

[11] Wiktoria Bieliaszyn, Rosja jest dzisiaj jednym ze światowych liderów pod względem „nadmiarowych zgonów”, „Gazeta Wyborcza”, 03.11.2021, https://wyborcza.pl/7,75399,27762869,rosja.html.

[12] https://bloknot-stavropol.ru/news/feykovye-soobshcheniya-ob-yadovitykh-dukhakh-rassy-1571505

[13] https://tass.ru/obschestvo/16805341

[14] https://prosleduet.media/details/2024-01-15-horror-stories/