Für gewöhnlich ist der 8. Mai in Deutschland ein normaler Tag, an dem die Mehrzahl der Menschen ihrer täglichen Beschäftigung nachgeht. Nicht jedoch am Museum Berlin-Karlshorst. Hierher kommen an jenem Tag Menschen, die dem 8. Mai als Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus durch die Rote Armee eine große Bedeutung zumessen. Den meisten Menschen in Deutschland ist der Tag jedoch unbekannt, sie begegnen ihm mit Gleichgültigkeit. Daraus leitet sich die Beobachtung ab, dass es in Deutschland heutzutage zwei vorherrschende Erinnerungsnarrative an das Ende des Zweiten Weltkrieges gibt. Die Ursachen dafür liegen unter anderem in der Teilung Deutschlands während des Kalten Krieges und in den Herausforderungen nach der Vereinigung des Landes 1990.

Das Museum Berlin-Karlshorst ist durch seine historische Bedeutung der zentrale Erinnerungsort an das Kriegsende in Deutschland. Es befindet sich am historischen Ort der Kapitulation, die Oberkommandierende der Wehrmacht am 8. Mai 1945 vor Vertretern der vier alliierten Mächte (Großbritannien, Frankreich, Sowjetunion, USA) unterzeichneten.

Abb. 1: Das Museumsgebäude am historischen Ort der Kapitulation.
Foto: Harry Schnitger, Museum Berlin-Karlshorst

1967 als sowjetisches Militärmuseum gegründet, wurde das Museum 1995 in eine deutsch-russische Trägerschaft überführt, die 1997 und 1998 um belarusische und ukrainische Partner erweitert wurde. Gestaltungselemente und Objekte aus der Zeit des sowjetischen Militärmuseum sind bis heute in der Außen- und Innengestaltung des Museumsensembles sichtbar, wie z.B. ein Panzerdenkmal und einen Park mit militärischer Technik von Panzern bis zu Haubitzen. Sie werden im heutigen Museum als Relikte der sowjetischen Erinnerungskultur historisiert. Darüber hinaus beherbergt das Museum eine moderne Dauerausstellung, die sich auf die deutsche und die sowjetische Gesellschaften während des Zweiten Weltkriegs fokussiert und als einzige in Deutschland mit dem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion auseinandersetzt.

Abb. 2: Sowjetische Großwaffen im Außengelände des Museums
Foto: Thomas Bruns, Museum Berlin-Karlshorst

Abb. 3: Ausstellungssaal mit verschiedenen Exponaten. Die Dauerausstellung fokussiert auf die deutsche und die sowjetische Gesellschaften im Zweiten Weltkrieg
Foto: Harry Schnitger, Museum Berlin-Karlshorst

Bis zum Beginn der Covid19-Pandemie in Deutschland 2020 und der anschließenden Vollinvasion der russischen Armee in der Ukraine 2022 fand auf dem Gelände am 8. Mai jährlich ein Museumsfest mit wechselnden Themenschwerpunkten statt. Was jedoch immer konstant war, war die feierliche Stimmung. Diese wurde von Menschen erzeugt, die den Tag als „Tag der Befreiung“ wahrnahmen oder, geprägt durch sowjetische und russische Narrative, ihn als „Tag des Sieges“ begingen. Die Panzer und Großwaffen dienten dabei als Erinnerungsort, an dem in einem symbolischen Akt der Dankbarkeit Blumen niedergelegt wurden. Eine Symbolik, die stark an Erinnerungspraktiken im sozialistisch geprägten Europa des Kalten Kriegs erinnert. Solche aus der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) stammenden Erinnerungspraktiken werden bis heute von einem Teil der Gesellschaft weitergetragen und finden bei einigen linken Gruppierungen durchaus Anklang. Sie signalisieren so einerseits ihren Dank für die Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus und betonen die Rolle der sozialistischen Sowjetunion. Andererseits leiten sie daraus tagespolitische Forderungen, etwa nach Abrüstung oder gegen Kriegseinsätze ab. Rechte Gruppen hingegen nutzten in der Vergangenheit den Tag, um geschichtsrevisionistische Themen vor dem Museum zu propagieren. Indem sie etwa behaupteten, dass Deutschland 1945 keineswegs befreit, sondern besetzt wurde und weil es keinen formellen Friedensvertrag gäbe, sei es das immer noch. Seitdem das Museumsfest nicht mehr stattfindet und sich die Aktivitäten des Museums an diesem Tag mehr auf die inhaltliche Arbeit, denn auf eine festliche Zusammenkunft konzentrieren, gibt es dazu scheinbar keinen Anlass mehr.

In der Hochzeit kamen bis zu 5.000 Besucher:innen zu diesem Fest. Das mag auf den ersten Blick eine stattliche Zahl sein, doch zeigt dies in einer Stadt von rund vier Millionen Einwohner:innen auch, dass ein Großteil der Bevölkerung diesem Tag nur wenig Beachtung schenkt. Damit zeigt der 8. Mai im Museum Berlin-Karlshorst wie unter einem Brennglas, die ambivalente Wahrnehmung dieses Datums zwischen Dankbarkeit und Gleichgültigkeit in der deutschen Gesellschaft. Woher kommt diese Spannweite an Emotionen, die mit diesem Datum verbunden sind?

8. Mai in der DDR – mehr als ein Erinnerungsort

Deutschland wurde nach dem Zweiten Weltkrieg unter den vier Alliierten in Besatzungszonen aufgeteilt. In der sowjetischen Besatzungszone bildete sich, angeleitet durch sowjetische Instrukteure, eine kommunistische Diktatur sowjetischen Typs. Dabei spielte der 8. Mai sehr schnell eine zentrale Rolle. Dies zeigte sich nach der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949. Bereits ein halbes Jahr später, wurde am 21. April 1950 ein Dekret verabschiedet, das den 8. Mai zum „Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus“ gesetzlich festlegte. Das Tempo dieser Entscheidung liegt in der enormen ideologischen Bedeutung des 8. Mai, mit dem die Existenz der DDR begründet wurde: Die Gründung der DDR als sozialistischer Staat wurde erst möglich, nachdem die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg Deutschland vom Faschismus befreit hatte.

Für die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) die 1946 durch die Zwangsvereinigung der Sozialdemokratischen Partei Deutschland (SPD) und der Kommunistischen Partei Deutschland (KPD) hervorgegangen war, war das Datum in dreierlei Hinsicht von grundlegender legitimatorischer Bedeutung. Erstens: Der Sieg der Sowjetunion über den Nationalsozialismus wurde als ein gesetzmäßiger Sieg des Sozialismus über den Imperialismus interpretiert. Daraus leitete sich eine Gesetzmäßigkeit ab, die die DDR als sozialistischen Staat legitimieren sollte. Zweitens konnte die SED sich als Nachfahren derjenigen deutschen Kommunist:innen darstellen, die gemeinsam mit den sowjetischen „Klassenkameraden“ für den Sieg über den Nationalsozialismus gekämpft hatten. Damit wurde die Minderheiten-Erfahrung der Gegnerschaft zum Nationalsozialismus in der Bevölkerung der DDR zu einer Mehrheits-Erfahrung gemacht. Dies war für den dritten Punkt wichtig: Das konstruierte Freundschaftsritual zwischen der DDR und der Sowjetunion half dabei, die Fakten zum nationalsozialistischen Vernichtungskrieg im östlichen Europa zur Kenntnis zu nehmen, ohne Schuldgefühle bei nachfolgenden Generationen zu wecken. Das führte zum einen zu einer Externalisierung der Schuld, die sich auch in der frühen Bundesrepublik Deutschland (BRD) beobachten ließ. Zum anderen war es auch das Angebot an die Jugend, auf „der richtigen Seite der Geschichte“ zu stehen.

Bis 1966 war der 8. Mai ein arbeitsfreier Feiertag, an dem die Menschen aufgefordert wurden, an Demonstrationen und Kranzniederlegungen an sowjetischen Denkmälern teilzunehmen. Ab 1967 mit der Einführung der Fünftagewoche wurde dieser Feiertag neben anderen gestrichen. 1985 wurde er von Erich Honecker, dem damaligen DDR-Staatsoberhaupt, noch einmal als arbeitsfreier Tag eingeführt. Darin zeigte sich eine erhöhte Aufmerksamkeit zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, die sich auch in der Bundesrepublik Deutschland mit der Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker niederschlug. Das hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass sowohl gesellschaftlich als auch politisch die Nachkriegsgeneration einen größeren Einfluss ausübte.

Die enge Verbindung zur Sowjetunion, die als „großer Bruder“ bezeichnet wurde, drückte sich ab 1958 auch darin aus, dass um den 8. Mai eine Woche der deutsch-sowjetischen Freundschaft organisiert wurde. Dabei wurde die Verbundenheit zwischen DDR und Sowjetunion betont, u. a. durch die Würdigung der Roten Armee im Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland oder auch bei Besuchen in den Kasernen der sowjetischen Besatzungsmacht.

Zur Ikone dieses Gedenkens wurde der „Befreier“ eine Skulptur im sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park, die in der sowjetischen und bis heute in der russischen Erinnerungskultur eine herausgehobene Stellung einnimmt. Die sowjetischen Ehrenmale in der DDR hatten für das verordnete Gedenken eine herausragende Bedeutung. Hier wurden staatlich orchestrierte Zeremonien durchgeführt, wo auch die Staats- und Regierungsspitze zu jedem Jahrestag des Kriegsendes die „unverbrüchliche Freundschaft“ mit der Sowjetunion zelebrierte.

Abb. 4: Führungsspitze der DDR nach der Kranzniederlegung am sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park am 8. Mai 1973
Foto: Klaus Franke, Bundesarchiv, Signatur: Bild 183-M0604-416

Bürger:innen nahmen mit ihren Arbeitskollektiven bzw. Jugendorganisationen an solchen Veranstaltungen teil. Hier waren es die lokalen Ehrenmäler, bzw. Kriegsgräberstätten der Roten Armee, die sich vielerorts in der DDR befanden, die zu zentralen Orten des Gedenkens wurden. Durch die Wahl dieser Orte sollte eine enge Verbindung zu den Soldaten der Roten Armee in der Vergangenheit und Gegenwart dargestellt werden. Inwieweit die Bevölkerung an diesem Tag auch ohne den politischen und gesellschaftlichen Druck den Veranstaltungen eine Bedeutung zugemessen hätte, ist heute schwer zu bemessen. Wollte man sich solchen gesellschaftlichen Ritualen entziehen, folgte zumindest eine Ächtung. Dies scheint einer der Gründe zu sein, warum gerade diese politisch motivierte Erinnerungspraxis ihre Spuren hinterlassen hat. Sie schlägt sich bis heute in Ritualen einzelner gesellschaftlicher Gruppierungen am 8. Mai nieder, die DDR-Ritualen sehr ähneln, nun freilich ohne den ideologischen und gesellschaftlichen Druck.

8. Mai in der BRD – ein Nicht-Erinnerungsort

Die verlustreiche Erfahrung des Kriegsendes in Deutschland prägte bei der Mehrheit der deutschen Bevölkerung die Eigenwahrnehmung als Opfer. Diese Erfahrung drückte sich in der Vorstellung von der „Stunde Null“ aus: Alles schien verloren und musste neu aufgebaut werden. Diese These ist später von vielen Historiker:innen kritisiert worden, weil sie zwar den Bruch betont, den das Ende des Zweiten Weltkrieges bedeutete, jedoch Kontinuitäten im Täter:innenkollektiv und die Verluste, die es anderen zufügte, außer Acht lässt. Heute wird sie in der breiten Öffentlichkeit und im schulischen Unterricht problematisiert und kritisch hinterfragt. In der Nachkriegszeit funktionierte sie jedoch für die politische Legitimation, als etwa der erste Bundeskanzler der BRD Konrad Adenauer darauf hinwirkte, dass der Parlamentarische Rat das neue Grundgesetz noch am 8. Mai 1949 beschließt. Der Tag des Kriegsendes vier Jahre zuvor sollte dadurch von einem positiven Ereignis überlagert werden, das letztendlich zur Gründung der Bundesrepublik führte. Das Datum der deutschen Niederlage im Zweiten Weltkrieg wurde so zum Datum eines politischen Neuanfangs umgedeutet. Heute spielt dies nur noch eine untergeordnete Rolle, da die Verabschiedung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 und die damit verbundene Gründung der Bundesrepublik Deutschland das Datum verblassen lassen.

In der Folgezeit ist der 8. Mai in der Bundesrepublik im Sinne des juristischen Vergessens in Erscheinung getreten. Das Datum galt als Verjährungsfrist für unterschiedliche nationalsozialistische Verbrechen: Zehn Jahre nach dem Kriegsende verjährten Delikte der Freiheitsberaubung (1955), zwanzig Jahre danach Totschlag und Körperverletzung mit Todesfolge (1965). Diese Praxis nutzte die DDR, um belastendes Material gegen bundesrepublikanische Politiker:innen zu veröffentlichen und damit ihre Verstrickungen mit dem nationalsozialistischen Regime zu verdeutlichen. Dahinter stand das Kalkül, Kontinuitäten zwischen den politischen Eliten des Nationalsozialismus und der BRD aufzuzeigen, die es freilich auch in der DDR gab. Im Gegensatz zu dieser vermeintlich reaktionären Haltung der BRD, inszenierte sich die DDR als überlegen und fortschrittlich.

Insgesamt führte die bundesrepublikanische Kultur der Amnesie in Bezug auf den 8. Mai und die aktive Verwendung des Datums in der DDR dazu, dass auch in den Folgejahren westdeutsche Politiker:innen eher auf verbale Vorstöße aus dem Osten mit Rechtfertigungen und Abgrenzungsstrategien reagierten, als das Datum proaktiv mit Sinn zu füllen. 1965 formulierte etwa der damalige SPD-Vorsitzende Willi Brandt in Bezug auf die „Befreiungsfeierlichkeiten“ in der DDR: „Zwanzig Jahre sind genug – genug der Spaltung, genug der Resignation und genug des bloßen Zurückschauens.“

Die Kritik einer mangelhaften Aufarbeitung verfing jedoch in der Bundesrepublik und trug einige Früchte. Auf Betreiben der internationalen KZ-Opferverbände entstanden ab Ende der 1950er Jahre die ersten Gedenkstätten. In Ludwigsburg wurde die „Zentrale Stelle zur Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen“ eingerichtet, um Täter aus der Zeit des Nationalsozialismus besser juristisch verfolgen zu können. Die Verbreitung von Radioempfängern und Fernsehern in den 1960er Jahren machte die Bundestagsdebatte um die 20-jährige Verjährungsfrist von Mord (1965) und den Eichmannprozess 1961 zu medial weit rezipierten Ereignissen. Zivilgesellschaftliche Initiativen, wie der 1967 aus der Friedensbewegung hervorgegangene Arbeitskreis „Blumen für Stukenbrock“ machten immer häufiger die nationalsozialistische Vergangenheit zum Thema, in dem sie ihre Aktivitäten auf die Aufarbeitung von Verbrechen in der unmittelbaren Nachbarschaft fokussierten, ohne dabei jedoch dem 8. Mai als Erinnerungsdatum besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Ein ähnliches Ziel verfolgten ab den 1980er Jahren sogenannte Geschichtswerkstätten. Parallel erlebte die historische Forschung zum Nationalsozialismus ab den 1960er Jahren einen großen Schub. Trotz erstarkter zivilgesellschaftlicher Aufarbeitung des Nationalsozialismus blieb der 8. Mai in der BRD eine Bühne für politische Eliten und ihre erinnerungspolitischen Vorstöße.

1970 hielt mit Gustav Heinemann zum ersten Mal ein Bundespräsident eine offizielle Rede aus Anlass des 8. Mai, was sich seitdem (mit Ausnahmen) alle 5 Jahre in der Bundesrepublik wiederholen sollte. Auch im Bundestag hielten bei einer Feierstunde Bundeskanzler Willy Brandt und Vertreter:innen aller Fraktionen eine Rede, sodass konservative Stimmen ironisierten, die Bundesrepublik übernehme DDR-Rituale.

In seiner Rede zum 8. Mai 1975 formulierte Bundespräsident Walter Scheel, dass die deutsche Bevölkerung mit dem Zusammenbruch des NS-Regimes „von einem furchtbaren Joch“ befreit wurde, merkte aber zugleich kritisch an, „daß diese Befreiung von Außen kam, daß wir, die Deutschen, nicht fähig waren, selbst dieses Joch abzuschütteln, daß erst die halbe Welt zerstört werden musste, bevor Adolf Hitler von der Bühne der Geschichte gestoßen wurde.“ Zusätzlich betonte er die gesellschaftliche Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen: „Adolf Hitler war kein unentrinnbares Schicksal. Er wurde gewählt.“ Seine Rede nahm wesentliche Punkte der Rede von Richard von Weizsäcker zehn Jahre später vorweg, bekam aber in der Erinnerungskultur weniger Aufmerksamkeit.

Abb. 5: Rede Richard von Weizsäckers während der Gedenkstunde zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985
Bundesarchiv, B 145-Bild-00013491

Dies lag vor allem am Hintergrund, vor dem Weizsäcker seine Rede hielt. Wenige Tage zuvor hatte Bundeskanzler Helmuth Kohl zusammen mit seinem Gast, dem US-Präsidenten Ronald Reagan, den Soldatenfriedhof in Bitburg besucht, auf dem auch Mitglieder der Waffen-SS begraben lagen. Nach massiver öffentlicher Kritik veranlasste die Opposition eine Rede des Bundespräsidenten bei der Gedenkstunde im Bundestag. Weizsäcker formulierte darin die Formel „der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“, was vor dem Hintergrund des Bitburg-Besuchs als ein Bruch interpretiert wurde, obwohl die These der Befreiung nicht neu war. Die Nähe zum DDR-Narrativ war gewollt, Weizsäcker versuchte über die Befreiungsthese zum 8. Mai dem Erinnerungsgegensatz zwischen der DDR und BRD eine einheitliche nationale Erzählung entgegenzusetzen, wenn er etwa sagte: „Wir Deutsche begehen diesen Tag unter uns […]. Wir müssen die Maßstäbe allein finden.“ Der Begriff der Befreiung hatte bei Weizsäcker jedoch noch eine weitere Komponente: die Läuterung. Die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg für ein kollektives „Lernen aus der Geschichte“ sollten vor einem historischen Rückfall bewahren: „Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“ Damit stuft ihn die Historikerin Cornelia Siebeck als “Begründer des heutigen Erinnerungskonsenses” in Deutschland ein.

Die Entwicklung dieser politischen Debatten soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die präsidialen Ansprachen lediglich alle 5 Jahre stattfanden. In der bundesrepublikanischen Gesellschaft hingegen blieb der 8. Mai lange Zeit ein wenig beachtetes Datum.

8. Mai nach der Vereinigung

Die Spannbreite an Verhaltensweisen zum Kriegsende zwischen Gleichgültigkeit und Dankbarkeit, die aus der Zeit nach 1945 stammte, konnten auch die geschichtspolitischen Maßnahmen nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Oktober 1990 nicht überbrücken. Das in der DDR instrumentalisierte erinnerungspolitische Konzept „Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus“ hielt in angepasster Form auch im vereinigten Deutschland Einzug. Weizsäckers Begriff der Befreiung wirkte fort und reduzierte dadurch laut Kritiker:innen die Rolle der Deutschen im Krieg auf die der Befreiten, d. h. der zuvor Unterdrückten, wodurch die Täter:innen aus dem Blick gerieten. Nach dem erinnerungspolitisch herausragenden 50. Jahrestag 1995 gab es in Deutschland eine Debatte um einen geeigneten Gedenktag für den Krieg und seine Opfer. Um jedoch einer Auseinandersetzung mit dem Kriegsende und seiner vielschichtigen Bedeutung für jede:n Einzelne:n zu entgehen, wählte Bundespräsident Roman Herzog 1996 auf Vorschlag des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland Ignatz Bubis den 27. Januar (Tag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz) zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine mögliche Alternative in der Erinnerung an die Opfer des Krieges stellte der 9. November dar, der aber aufgrund seiner vielschichtigen Bedeutung in Deutschland (u.a. Mauerfall 1989, Reichspogromnacht 1938, Novemberrevolution 1918, Märzrevolution 1848) keine Beachtung fand. Der 8. Mai hingegen wurde als Gedenktag nicht in den Blick genommen, er wurde weiterhin verkürzt als Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus dargestellt. Diese Deutung vernachlässigt allerdings die Rolle des Deutschen Reiches, das zwischen 1939 und 1945 einen verheerenden Krieg führte, der Millionen von Opfern forderte, und die Rolle der deutschen Täter:innen. Auf Länderebene gerieten erinnerungspolitische Narrative der DDR wieder in den Blick, und zwar in den Bundesländern, die aus ihr hervorgegangen waren. Dabei spielte der 8. Mai nun auch wieder eine Rolle. Im Jahr 2002 erhob die Landesregierung Mecklenburg-Vorpommerns den 8. Mai zum Gedenktag, als „Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus und der Beendigung des Zweiten Weltkrieges“. 2015 folgte das Land Brandenburg und in Berlin wurde der 8. Mai 2020 zum einmaligen arbeitsfreien Feiertag erklärt, der sich 2025 wiederholen wird. 2020 flammte die Debatte zum 8. Mai wieder auf, nachdem Esther Bejarano, Holocaust-Überlebende und Vorsitzende des deutschen Auschwitz-Komitees forderte, den Tag als gesamtdeutschen Feiertag für die Befreiung der Menschheit vom Nationalsozialismus einzuführen. Unter Historiker:innen gab es zu diesem Vorschlag durchaus geteilte Meinungen. Ein Teil meldete Zweifel an und begründete diese damit, dass die Komplexität der Ereignisse reduziert werden würde. Andere wiederum, wie zum Beispiel Martin Sabrow argumentieren für die Einführung eines Feiertags und favorisierten die Benennung nach dem Vorschlag aus Mecklenburg-Vorpommern, da diese die Ambivalenzen des Tages auch im Titel (Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus und der Beendigung des Zweiten Weltkrieges) deutlich machen würde. In der breiten Gesellschaft löste dies jedoch kein nachhaltiges Echo aus und so blieb die Debatte über einen gesamtdeutschen Feiertag am 8. Mai auf einen kleinen Kreis von Fachleuten beschränkt. Dies hat sich bis heute nicht geändert. Forderungen werden zwar jährlich hervorgebracht, finden aber weder in der Gesellschaft noch in der Politik einen Resonanzboden.

Weiterführende Literatur: