„Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft“, schrieb George Orwell in seinem Roman 1984 , der das Wesen des Totalitarismus darstellt. Die Kontrolle über das kollektive Gedächtnis war für die Kommunisten ein unabdingbarer Bestandteil der Machtausübung und der Machtkonsolidierung. Ihr Instrument war die Lüge – die Grundlage der totalitären Versklavung.

Die Neuschreibung der Geschichte

Nach dem Umsturz des Jahres 1917 und der daraus resultierenden Machtübernahme durch die Kommunisten wurde die Geschichte einer strengen politischen Kontrolle unterworfen. Sie wurde in den Dienst der aktuellen Interessen der Machthaber und des Sowjetimperiums gestellt. Sie wurde der Zensur unterworfen. Sie wurde zu einem Propagandainstrument. Als Wissenschaft, die sich mit der Erforschung der Vergangenheit beschäftigt, existierte sie nicht mehr. Sie wurde ständig neu geschrieben. Sie wurde nach den Vorgaben der als unfehlbar geltenden kommunistischen Partei im großen Stil manipuliert. Bestimmte Fakten, Daten und Personen wurden verdreht oder gelöscht. Nach der Absetzung und Ermordung des Chefs der politischen Polizei Lawrenti Beria im Jahr 1953 wurden die Abonnenten der Großen Sowjetischen Enzyklopädie beispielsweise dazu aufgefordert, den Eintrag über seine Person und sein Porträt mithilfe einer Rasierklinge herauszutrennen und an diese Stelle neue Seiten mit einem dem „Beringmeer“ gewidmeten Eintrag zu kleben.

Ähnlich verhielt es sich mit dem berühmten Foto, das den sowjetischen Diktator Stalin mit Nikolai Jeschow, den Vorgänger von Lawrenti Beria, zeigt. Nach seiner Ermordung „verschwand“ Jeschow plötzlich von der Fotografie, die für spätere Veröffentlichungen entsprechend retuschiert wurde. Der Zugang zu den Archiven war streng reglementiert, das Aufdecken der Wahrheit oder das Vertreten einer von der offiziellen Geschichtsauffassung abweichenden Auslegung galt als Verbrechen und wurde mit Repressionen geahndet.

Die Geschichte wurde vollständig der marxistischen Lehre untergeordnet, die von den Philosophen Karl Marx, Friedrich Engels und Wladimir Lenin, dem ersten Staatschef Sowjetrusslands, geprägt wurde. Die Frage nach der einzig wahren Auslegung dieser Lehre unterlag jedoch dem Gutdünken der Partei und wurde jedes Mal aufs Neue entschieden.

Dem ideologischen Weltbild zufolge war der Klassenkampf der Motor der Geschichte und die Geschichte selbst eine stetige Weiterentwicklung hin zum Sozialismus, an deren Ende zwangsläufig der Sieg des Kommunismus weltweit stand. Die Gründung des ersten sozialistischen Staates, der Sowjetunion, wurde als Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit betrachtet.

Brief des Herausgebers der Großen Sowjetischen Enzyklopädie an seine Abonnenten mit der Bitte, die Seiten 21 bis 24 zu ersetzen. Im Hintergrund sind die Abbildungen des Beringmeers erkennbar, die anstelle des Enzyklopädie-Eintrags zu Lawrenti Beria eingeklebt wurden. Band 5, S. 21 der 1950 erschienenen 2. Ausgabe der Großen Sowjetischen Enzyklopädie, 2008 [abgerufen am: 12.03.2021]. Verfügbar in der freien Enzyklopädie Wikipedia unter: https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%A4%D0%B0%D0%B9%D0%BB:BSE-2-Edition-Vol-5-page21-replacement.png
Im Jahr 1938 erschien Die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) Kurzer Lehrgang. Bereits die Urheberschaft dieses Werkes unterlag der Fälschung. Eigentlich stammt es von einer anonymen Redaktionskommission, mit der Zeit wurde es jedoch Stalin zugeschrieben, der sich selbst zum bedeutendsten Historiker aller Zeiten erhob. Diese sog. Bibel des Stalinismus war voller Lügen und Auslassungen und legte ganz genau fest, wie und was über die Vergangenheit zu schreiben war, und zwar auch über die der Kommunistischen Partei. Für mehr als 12 Jahre gehörte sie für die Bürger der UdSSR und die der durch sie unterdrückten Staaten zur Pflichtlektüre. In dieser Zeit erschien sie in über 300 Ausgaben, wurde in mehr als 60 Sprachen übersetzt und erreichte eine Auflage von über 40 Millionen Exemplaren.

Der berühmte Philosoph Leszek Kołakowski nannte das Werk „ein hervorragendes Handbuch der Erinnerungsfälschung“, mit dem „die Partei die Köpfe beherrschen und sowohl das kritische Denken als auch das kollektive Gedächtnis
über die eigene Vergangenheit zunichtemachen sollte.“

In der Geschichte der KPdSU (B) wurde ein vereinfachtes Schema der Weltentwicklung präsentiert, das sich auf das Aufeinanderfolgen der folgenden Gesellschaftsformen beschränkte: Urgesellschaft, Sklaverei, Feudalismus, Kapitalismus und Sozialismus. Dieses Schema war auch auf die Geschichtsschreibung von Ländern anzuwenden, in denen es diese Formationen nie gegeben hatte. Das Buch begründete auch den Kult um Lenin und dessen angeblich ergebensten Schüler Stalin als geniale und unfehlbare Führer der kommunistischen Partei, bauschte dabei jedoch Stalins Rolle bei der Organisation der bolschewistischen Partei, der Oktoberrevolution und dem Aufbau des Sowjetstaates stark auf. Gleichzeitig blieben die tatsächlichen Führer entweder unerwähnt oder wurden als Verräter bezeichnet. Ab diesem Zeitpunkt hatten sich die Geschichtswissenschaftler an diese „Erkenntnisse“ zu halten. Die Namen von Personen, die in der Geschichte der KPdSU (B) als Feinde bezeichnet wurden, verschwanden nach und nach aus anderen sich noch im Umlauf befindlichen Büchern.

Nach Stalins Tod im Jahr 1953 fanden die durch den ersten russischen marxistischen Historiker, Michail Pokrowski, geprägten Worte „Geschichte ist Politik, die sich der Vergangenheit zuwendet“ erneut Bestätigung. 1956 fand der 20. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) statt. Hinter verschlossenen Türen hielt der neue Parteiführer Nikita Chruschtschow den Vortrag mit dem Titel Über den Personenkult und seine Folgen. Darin verurteilte er Stalin für die gegen Parteimitglieder verhängten Repressionen (verlor jedoch kein Wort über die zahlreichen anderen Opfer), die Deportationen ganzer Völker und die im Verlauf des 2. Weltkriegs begangenen Fehler, darunter sein Vertrauen zu Hitler, das verhindert habe, dass sich Land auf einen feindlichen Überraschungsangriff habe vorbereiten können. Darüber hinaus kritisierte er den stalinistischen Personenkult. Durch seine Kritik an Stalin wusch Chruschtschow sich und andere Komplizen des Tyrannen rein und sprach sich so von seiner Verantwortung an Verbrechen frei, an denen er beteiligt war.

 

Nikita Chruschtschow hält seinen Vortrag „ Über den Personenkult und seine Folgen“, Moskau, 1956

„Geschichte ist Politik, die sich der Vergangenheit zuwendet“ erneut Bestätigung. 1956 fand der 20. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) statt. Hinter verschlossenen Türen hielt der neue Parteiführer Nikita Chruschtschow den Vortrag mit dem Titel Über den Personenkult und seine Folgen. Darin verurteilte er Stalin für die gegen Parteimitglieder verhängten Repressionen (verlor jedoch kein Wort über die zahlreichen anderen Opfer), die Deportationen ganzer Völker und die im Verlauf des 2. Weltkriegs begangenen Fehler, darunter sein Vertrauen zu Hitler, das verhindert habe, dass sich Land auf einen feindlichen Überraschungsangriff habe vorbereiten können. Darüber hinaus kritisierte er den stalinistischen Personenkult. Durch seine Kritik an Stalin wusch Chruschtschow sich und andere Komplizen des Tyrannen rein und sprach sich so von seiner Verantwortung an Verbrechen frei, an denen er beteiligt war.

Geschichtsfälschung war ein Instrument im Kampf um die Macht und sicherte den Fortbestand des Systems.

Bei dieser Darstellung lag die Schuld beim Despoten, das System an sich war grundlegend richtig. Dieser Argumentation folgend war die Herrschaft Stalins lediglich eine vorübergehende Verzerrung des Kommunismus, der unter der Führung von Chruschtschow, der sich selbst zum wahren Nachfolger Lenins ernannte, wieder auf den rechten Weg gebracht würde. Dieser Mechanismus wurde auch von den darauffolgenden Führern der UdSSR angewandt und die These, der zufolge die Partei und das Volk nichts vom Machtmissbrauch Stalins gewusst haben sollen, galt bis zum Untergang der UdSSR. Durch diese Manipulation erklärt sich der bis zum heutigen Tage vertretene Irrtum, demzufolge der Stalinismus (die Ära eines einzelnen Tyrannen) nicht mit dem an sich richtigen System des Kommunismus gleichgesetzt werden darf.

Nach sowjetischem Vorbild

Das im Vorfeld beschriebene Muster wurde in anderen kommunistischen Ländern übernommen, darunter auch in denen, die von der UdSSR unterdrückt wurden. Nach russischem Vorbild wurde die Geschichte einzelner Staaten und Nationen umgeschrieben. Die kommunistische Propaganda stellte solche Epochen, Ereignisse und Persönlichkeiten in den Vordergrund, die zu ihrer Lehre passten, was ihr jedoch widersprach, wie z. B. antikommunistische Bewegungen oder Unabhängigkeitsbewegungen, wurde gestrichen oder schlechtgemacht. Sie suchte in der Geschichte nach Rechtfertigungen für die kommunistische Herrschaft und für die nach dem Krieg vorgenommenen Gebietsveränderungen. Sie fälschte die Geschichte lokaler kommunistischer Bewegungen, indem sie ihnen vermeintliche historische Verdienste zuschrieb. Sie durchforstete die Geschichte auch nach Argumenten für das „Bündnis“ mit der UdSSR. Ereignisse, die diese „Freundschaft“ hätten trüben können, wurden übergangen oder verdreht, wie z. B. in Polen, das während des 2. Weltkrieges sowohl von Nazideutschland als auch von der UdSSR besetzt worden war und wo dennoch die Theorie forciert wurde, der zufolge es nur einen Feind gab – die Deutschen. Außerdem unterlagen auch die Informationen zum Polnisch-Sowjetischen Krieg in den Jahren 1919-1921 der Zensur.

Der Feiertagskalender wurde manipuliert, traditionelle Nationalfeiertage mussten neuen Jahrestagen weichen: Tag der Oktoberrevolution (7. November), Tag des Sieges (09. Mai), es wurden Gedenktage eingeführt, die an die kommunistische Machtübernahme erinnerten. Veröffentlichungen, Denkmäler und Straßennamen ehrten neue „Helden“. Unabhängigkeitsaktivisten und andere verdiente Persönlichkeiten, die als nicht ausreichend progressiv galten, wurden durch kommunistische Aktivisten ersetzt (z. B. durch Feliks Dzierżyński, seines Zeichens Verbrecher und Gründer der sowjetischen Geheimpolizei).

Die Unterordnung der Geschichte unter ideologische und politische Erfordernisse bedeutete nicht, dass es in ihr überhaupt keinen Raum mehr für Wahrheit gegeben hätte. Gerade in Zeiten der Liberalisierung des Systems waren freie Meinungsäußerungen über die Vergangenheit zulässig, aber nur, wenn sie die offizielle Parteilinie nicht untergruben.

Weiße Flecken

An dieser Stelle alle im Rahmen der kommunistischen Propaganda vorgenommenen Fälle von Geschichtsfälschung aufzuzählen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Dazu gehört beispielsweise der bewaffnete Putsch, durch den die Bolschewisten die nach Ende des Zarentums in Russland gegründete demokratische Republik stürzten und die Macht übernahmen und der als große sozialistische Revolution der arbeitenden Massen gegen die Ausbeuter dargestellt wurde. Es wurden viele Ereignisse aus der Geschichte der UdSSR ausgeblendet, vor allem solche, die im Zusammenhang mit den durch das kommunistische Regime verhängten Massenrepressionen standen. Opferzahlen wurden verschwiegen. Die Umstände der sowjetischen Intervention im Spanischen Bürgerkrieg in den Jahren 1936–1939 wurden falsch dargestellt und das Wissen über die Verbrechen, die von der durch die UdSSR unterstützten Seite
begangen wurden, wurde unterschlagen.

Die zum Ausbruch des 2. Weltkrieges führenden Umstände wurden verschwiegen, d.h. die Existenz eines geheimen Zusatzprotokolls zum Hitler-Stalin-Pakt – dem am 23. August 1939 von der UdSSR und dem Dritten Reich unterzeichneten deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt – das die Aufteilung der Einflusssphären der beiden Mächte in Mittel- und Osteuropa regelte. Die sowjetische Invasion in Polen
am 17. September 1939 wurde als „Befreiung von Brudervölkern“ und die Annexion der baltischen Staaten durch die UdSSR als „Sieg der sozialistischen Revolution“ bezeichnet. In der kommunistischen Propaganda war der Zweiten Weltkrieg der von 1941 bis 1945 dauernde „Große Vaterländische Krieg“. So ließ sich der für die UdSSR unrühmliche Kriegsbeginn und das Bündnis mit Hitler umgehen. Die sowjetischen Repressionen in den von der UdSSR besetzten Gebieten wurden verschwiegen, so z. B. das Schicksal der tief ins Innere der UdSSR deportierten Volksgruppen (darunter Esten, Finnen, Litauer, Letten, Polen, Rumänen, Ukrainer, Juden) oder die Umstände des Massakers von Katyn, für das die Deutschen verantwortlich gemacht wurden.

Einige dieser Geschichtsfälschungen werden noch immer wiederholt. In Russland werden sie z. B. für politische Zwecke instrumentalisiert. Auch heute noch wird die Geschichte in Staaten, in denen der Kommunismus fortbesteht, gefälscht. So z. B. in China, wo das Regime das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Jahr 1989 mit dem Mantel des Schweigens belegt und in Nordkorea, das bis heute an der Version festhält, der Koreakrieg in den Jahren 1950–1953 sei durch eine von den USA provozierte Aggression Südkoreas ausgelöst worden.

Redaktion: Anna Kaniewska