Das Oratorium drückt Benjamin Brittens (1913-76) pazifistische Weltanschauung aus. Dieser berühmteste britische Komponist (vielleicht nicht nur des 20. Jahrhunderts), Pazifist und Individualist (eventuell auch bedingt durch seine Homosexualität), auch der „britische Orpheus“ genannt, schrieb das Werk zur Einsegnung der neugebauten St. Michael‘s Cathedral in Coventry, nachdem die alte während des Zweiten Weltkriegs zerstört worden war.

Britten kombinierte den lateinischen Text der Missa pro defunctis (Totenmesse) mit neun Gedichten von Wilfred Owen, die dieser während des Ersten Weltkriegs schrieb. Dadurch verwies er auf die beiden großen Tragödien des 20. Jahrhunderts. Der Zweite Weltkrieg, den Britten selbst erlebte (teils in den Vereinigten Staaten, wohin er 1939 im Angesicht der wachsenden Spannungen ging) gab den unmittelbaren Ausschlag, das Oratorium zu schreiben: Die Kathedrale in Coventry, aus dem 14. Jahrhundert stammend, wurde während eines Bombenangriffs auf die Stadt im November 1940 dem Erdboden gleichgemacht. Seine Kindheit verbrachte Britten im Schatten des Ersten Weltkriegs. Dieser hatte auch einen direkten Einfluss auf das Leben und Schreiben von Wilfred Owen (1893-1918), dessen Poesie die Tragik und das Grauen von Kriegserlebnissen widerspiegelt.

Der Komponist schrieb das War Requiem für drei Solostimmen (Sopran, Tenor und Bariton), gemischten Chor, Knabenchor (ein unverzichtbares Element, wenn man Englands lange Tradition auf diesem Feld bedenkt), Orgel und zwei Orchester: ein voll besetztes Orchester und ein Kammerorchester. Interessanterweise sah Britten vor, die Solorollen mit drei KünstlerInnen aus den Ländern, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatten, zu besetzen: Galina Vishnevskaya aus der UdSSR (Sopran), Peter Pears aus Großbritannien (Tenor) und Dietrich Fischer-Dieskau aus Deutschland (Bariton). Allerdings erlaubten die sowjetischen Behörden Vishnevskaya nicht, an der Premiere teilzunehmen (obwohl sie später bei der Aufnahme des Stückes in London mitwirken durfte) und die Sopranstimme musste von der irischen Sängerin Heather Harper innerhalb von zehn Tagen einstudiert werden.

Es sollte am Rande hinzugefügt werden, dass Britten und Pears (einer der herausragendsten Tenöre in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts) eine langjährige persönliche und künstlerische Beziehung führten, die 1937 begann. Pears übernahm alle Hauptrollen in den großen Opern von Britten und ihm wurden auch die meisten von Brittens Liederzyklen gewidmet, wie die „Seven Sonnets of Michelangelo“ (1940) oder die „Holy Sonnets of John Donne“ (1945).

Das War Requiem ist Freunden von Britten gewidmet, die Soldaten waren. Auf Brittens und Pears privater Liste standen David Gill, Roger Burney, Michael Halliday und Piers Dunkerley. Die drei erstgenannten fielen im Krieg. Dunkerley, einer der besten Freunde des Komponisten, nahm 1944 an der Landung in der Normandie teil. Er überlebte, aber das Kriegstrauma beeinträchtigte seine psychische Verfassung so stark, dass er im Juni 1959 Selbstmord beging, zwei Monate vor seiner Hochzeit. Zweifellos ist das der Grund, weshalb Britten die Gedichte von Owen als ergreifenden, teils kontroversen Kommentar des liturgischen Texts auswählte.

Das War Requiem dauert etwa anderthalb Stunden. Die monumentale Komposition sieht eine räumliche Anordnung der verschiedenen Ensemble wie folgt vor: Das Kammerorchester begleitet intime poetische Phrasen (gesungen vom Tenor oder Bariton), wohingegen der Sopran, die Chöre und das große Orchester für die lateinische Messe eingesetzt werden. Die Stimmung des gesamten Werks ist von dem Tritonus C – Fis dominiert. Er ist das grundlegende strukturelle Element, von dem alle weiteren harmonischen und melodischen Konstruktionen abhängig sind. Der beißende, harsche Klang des Intervalls ist symbolisch: In der Musikliteratur wird der Tritonus als „Diabolus in musica“ bezeichnet (wortwörtlich der „Teufel in der Musik“), ein Begriff, welcher von dem deutschen Theoretiker Johann Joseph Fux in seiner Abhandlung von 1725 geprägt wurde. Obwohl es nicht stimmt, dass dieses Intervall in der alten Kirchenmusik verboten war, ist Brittens Entscheidung vielsagend.

Zwei Ausschnitte verdienen besondere Aufmerksamkeit. Das Stück beginnt mit einem ruhigen Teil (Requiem aeternam), welcher durch die Einschiebung des ersten Gedichtes von Owen unterbrochen wird: Anthem for Doomed Youth, gesungen vom Tenor. Dasselbe Motiv kehrt im Finale wieder, diesmal in den Marsch des Kontrabasses einschneidend (Libera me, Domine). Ein weiteres Schlüsselelement (und wahrscheinlich der schönste Teil des War Requiems) ist das Offertorium, welches liturgische und poetische Erzählungen vereint. Die Fuge für Chor über das Versprechen des biblischen Abraham trifft auf das überaus dramatische Gedicht „The Parable of the Old Man and the Young“ von Wilfred Owen (Tenor und Bariton), welches die Opfer des Isaak mit dem Tod der jungen, unschuldigen Soldaten im Ersten Weltkrieg vergleicht. Des Weiteren wird der Zuhörer zu Brittens Lobgesang „Abraham and Isaac“ von 1952 mitgenommen, wenn der Knabenchor plötzlich anfängt, „Hostias et preces tibi, Domine“ (Lobgebete und Opfer bringen wir dir dar, Herr) zu singen.

Das Requiem hat noch einen weiteren wichtigen Kontext: Im Jahr 1940 gab die japanische Regierung die „Sinfonia da Requiem“ in Auftrag, um das 2600-jährige Gründungsjubiläum des Kaiserreichs zu feiern. Den Japanern gefiel die Sinfonie nicht und sie lehnten die Partitur aufgrund der fremdländischen christlichen Elemente ab. Infolgedessen widmete Britten das Werk seinen verstorbenen Eltern. Daran kann man sehen, dass die Redewendung, Musik sei eine unvierselle Sprache und könne alle Konflikte lösen, nicht immer der Wahrheit entspricht.

Weitere Informationen über Entstehung und Inhalt des War Requiems in zahlreichen Videos, Bildern und Texten (englischsprachig) erklärt gibt es hier: https://brittenpears.org/explore/benjamin-britten/music/war-requiem/