Aufgrund des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges kamen zahlreiche Emigranten in die neutrale Schweiz, unter ihnen auch Künstler und Intellektuelle aus Mittel- und Osteuropa. Sie waren auf der Suche nach einem sicheren Rückzugsort, an dem sie ungestört leben und schaffen konnten. Auf diese Weise wurde Zürich zwischen 1915 und 1916 zum Geburtsort einer neuen künstlerischen Gruppe, welche – wenn auch ohne beständige Agenda oder einen gleichartigen Stil – die Vorstellung von Kunst und der Rolle des Künstlers im 20. Jahrhundert revolutionierte. Die Bewegung, welche später Dadaismus genannt wurde, war von Dichtern und Schriftstellern des im Februar 1916 gegründeten Cabaret Voltaire initiiert – einem literarischen und künstlerischen Klub, der als Arena für kreative Experimente der Gründer diente. Das Cabaret Voltaire wurde von dem Deutschen Hugo Ball und seiner Frau Emma Hennings, dem Psychoanalisten und Literaten Richard Hülsenbeck, dem rumänischen Dichter Tristan Tzara und dem französischen Maler Hans Arp geleitet. Allerdings stellte sich heraus, dass das Cabaret Voltaire nicht nur ein Veranstaltungsort für künstlerische Spiele mit Formen und erste Dada-Aufführungen (von den Künstlern initiierte paratheatralische Shows) war, sondern auch eine Plattform, um Widerstand gegen die damalige Situation in Europa auszudrücken. Trotz vieler Unterschiede teilten die Mitglieder der Bewegung zweifellos zwei Dinge: Die bedingungslose Verurteilung des Krieges, den sie als reine Absurdität und den ultimativen Beweis für den Untergang der europäischen Kultur ansahen; und den Wunsch, sich der heiliggesprochenen künstlerischen Tradition entgegenzusetzen und gegen alle Regeln der Kunst radikal zu verstoßen.

Die Dadaisten waren nicht die erste Avantgarde-Gruppierung, die sich auf den Krieg fokussierte. Dieses Thema war vorher schon in Manifesten und Erklärungen von italienischen Futuristen aufgetaucht. Allerdings unterschieden sie sich von den Gründern des Futurismus, die den Krieg als „die einzige Hygiene der Welt“ (1) priesen und den Faschismus unterstützten, durch ihre bedingungslose Verurteilung solch einer absurden Manifestation der Gewalt in großem Maßstab. Der Erste Weltkrieg war der erste militärische Massenkonflikt, der zeigte, welche Gräueltaten die verfallenen westlichen Zivilisationen verüben konnten. Die Dadaisten waren der Ansicht, dass der Verfall der westlichen Zivilisation auch ein Ergebnis der Schwäche der Vorkriegskultur war, die sich zu weit vom echten Leben entfernt hatte und deshalb nicht die Rolle spielte, die sie eigentlich hätte einnehmen sollen. Diese Schlussfolgerung inspirierte die Grundgedanken des Dadaismus: Die Idee einer totalen künstlerischen Revolte.

Ihr Ziel, sowohl in Zürich als auch anderswo – denn die Bewegung wuchs in Paris, New York und dann auch in mehreren deutschen Städten – war das Streben nach der totalen Zerstörung der Kunst, die sich als Objekt eines ästhetischen Kults verstand. Bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein wurde Kunst mit fast religiöser Erfurcht behandelt und Kunstwerke waren „geheiligte“ Objekte der Anbetung. Künstler wie Tzara und die bildenden Künstler Hans Arp, Marcel Duchamp or Francis Picabia lehnten diese Haltung ab, verspotteten und negierten sie. Laut den Dadaisten sollte Kunst von ästhetischen und sozialen Vorschriften und Regeln befreit werden. Aufgrund dieser Überzeugung führten sie den Begriff der „Antikunst“ oder der anti-rationalistischen und anti-ästhetischen Kreation ein. Diese machte Absurdität, Spott und Ironie zu ihrer hauptsächlichen ‚künstlerischen‘ Ausdrucksform. Diese spezifische künstlerische Einstellung konnte in jedem einzelnen Aspekt des dadaistischen Schaffens gefunden werden – beginnend beim Namen der Gruppe, welcher vom französischen „dada“ abstammt, einem zufällig im Wörterbuch gefundenen Begriff, der etwas Banales bezeichnet, das Spielzeug eines Kindes, „alles und nichts“ für das Schaffen ihrer Werke.

Die größte künstlerische Revolution der Bewegung war die Einführung der Kunst der „ready-mades“, d.h. von vorgefertigten Objekten, die in Fabriken oder von den Künstlern produziert wurden. Diese Objekte wurden von den Künstlern von ihrem ursprünglichen Nutzen entfremdet und so zu einem Kunstwerk erhoben. Die bekanntesten Beispiele von ready-mades sind von Marcel Duchamp: „Flaschentrockner“ (1914) und das kontroverse „Fountain“ (1917). Beim Letzteren handelt es sich um eine Skulptur, für die der Künstler ein vorgefertigtes Urinal aus Keramik nutzte, mit einer Signatur versehen. Dieses stellte er in einer Kunstgalerie aus. Im frühen 20. Jahrhundert löste solch künstlerische Aktivität Empörung in der Öffentlichkeit aus: Ihr wurde vorgeworfen, die Grenzen des guten Geschmacks zu überschreiten und das Kunstwerk zu entweihen. Indem sie mit Formen experimentierten und sich den Witz zu Gebrauch machten, bewiesen die Dadaisten, dass Kunst noch lebendig war und dass sie nicht lediglich ein Objekt der ästhetischen Entzückung darstellen konnte, sondern ebenso eine Interpretation der Realität. Vor allem zeigten sie, dass nicht das physische Werk selbst am wichtigsten war, sondern die dahinterstehende Idee des Künstlers.

Die internationale Szene der kreativen Dada-Künstler wuchs rasant und erstreckte sich über zwei Kontinente und sieben Länder. Zahlreiche Manifeste wurden herausgegeben, auch Dada-Zeitschriften erschienen. Obwohl sich die Tätigkeit der Bewegung in den Jahren 1916-17 am intensivsten in Zürich entwickelte, wurde das deutsche Zentrum in der Nachkriegszeit besonders aktiv. Die in Berlin ansässigen Dadaisten fokussierten sich hauptsächlich auf politische und soziale Themen, unter anderem schufen sie kritische Collagen, um auf die Mangel der neuen Nachkriegsrealität aufmerksam zu machen. „Schnitt mit dem Küchenmesser. Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands” (1919) von Hannah Höch ist eines der besten Beispiele für Dada-Fotomontage. In diesem zeigt die Künstlerin sowohl das Nachkriegschaos als auch die politische und kulturelle Fragmentierung der neugegründeten Weimarer Republik. Diese mutige Haltung und Innovation der deutschen Dadaisten trug zu ihren Problemen mit den immer radikaleren Autoritäten bei. Dies war einer der Gründe (wenn auch nicht der hauptsächliche) für das beginnende Aussterben der Bewegung in den frühen 1920er Jahren. Trotzdem drückte die Dada-Revolution dem künstlerischen Schaffen der nachfolgenden Jahrzehnte ihren Stempel auf und ebnete der zeitgenössischen Kunst den Weg.

Verweis:
1. F. T. Marinetti, “Manifest futuryzmu” (Futuristisches Manifest) [in:] Artyści o sztuce. Od van Gogha do Picassa, selected and edited by E. Grabska and H. Morawska, Warsaw 1969.

Weiterführende Literatur:
Richter, Hans: DADA-Kunst und Antikunst: der Beitrag Dadas zur Kunst des 20. Jahrhunderts (Köln 1973, DuMont Dokumente)