Penderecki begann das Requiem 1979 mit dem „Lacrimosa“, welches auf Ersuchen von Lech Wałęsa anlässlich der Enthüllung des Denkmals für die Opfer von Aufständen gegen die Regierung im Dezember 1970 komponiert wurde. Es war Lech Wałęsa auch gewidmet und wurde zum ersten Mal am 16. Dezember 1980 aufgeführt. „Dies irae“ gedenkt der Opfer des Warschauer Aufstands. „Libera me, Domine“ ist den polnischen Offizieren gewidmet, die in Katyń ermordet wurden (Teile des Stücks wurden in den Soundtrack des Films „Katyń“ unter Regie von Andrzej Wajda eingearbeitet). „Agnus Dei“ folgte auf den Tod des ‚Primas des Jahrhunderts‘, Kardinal Stefan Wyszyński, und wurde erstmals 1981 während einer Trauerfeier aufgeführt. Penderecki schrieb 1982 den Abschnitt „Recordare“, um die Seligsprechung von Maximilian Maria Kolbe zu feiern. Nach der Premiere am 28. September 1984 in Stuttgart fügte er 1993 das „Sanctus“ hinzu. Schließlich komponierte er 2005 ein weiteres instrumentales Fragment, die „Chaconne“, welche dem damals gerade verstorbenen Johannes Paul II. gewidmet wurde.

Es war nicht das erste Mal, dass Penderecki sein Werk so dicht an historische Ereignisse anlehnte. Seine bereits komponierte „Lukas-Passion“ (1966) wurde zum Anlass des 700-jährigen Jubiläums der Kathedrale von Münster geschrieben. „Kosmogonia“ wurde von den Vereinten Nationen anlässlich ihres 25-jährigen Bestehens in Auftrag gegeben. „Magnificat“ (1974) gedachte dem 1200. Geburtstag der Kathedrale von Salzburg. Die Oper „Das verlorene Paradies“ (1976-78), welche auf dem Gedicht von John Milton beruht, wurde anlässlich des 200. Geburtstages der USA in Auftrag gegeben, während das 200-jährige Jubiläum der französischen Revolution mit Pendereckis Sinfonie Nr. 4 gefeiert wurde. „Seven Gates of Jerusalem“ (1996) markierte die 3000-jährige Existenz von Jerusalem, die „Hymne an den heiligen Daniel“ (1997) 850 Jahre Moskau und die „Hymne an den heiligen Adalbert“ (1997) 1000 Jahre Danzig und den Märtyrertod von St. Adalbert. Das Klavierkonzert „Auferstehung“ (2001-2002) wurde den Opfern des Terroranschlags am 11. September 2001 gewidmet.

Das „Polnische Requiem“ dauert über 100 Minuten. Es ist für vier Solostimmen (Sopran, Mezzosopran, Tenor, Bass), gemischten Chor und ein erweitertes Sinfonieorchester gedacht (vierfache Besetzung der Holzbläser, sechs Hörner und eine große Schlagzeug-Sektion). Die finale Version besteht aus den folgenden Teilen: Introitus; Kyrie; Dies irae (der umfangreichste Teil); Sanctus; Chaccone für Orchester; Agnus Dei für Chor a cappella; Lux aeterna; Libera me, Domine; Heiliger, allmächtiger Gott und Libera animas. Das Requiem wurde 2014 in einer gekürzten Version anlässlich des 3. Todestages des Erzbischoffs Józef Życiński aufgeführt. Diese gekürzte Version wird „Lublin-Version“ genannt und dauert weniger als 60 Minuten.

Die vollständige Version beginnt in tiefster Stille. Der Klang von tiefen Streichern ertönt, dann endlich schließt sich der Chor an: „Requiem aeternam dona eis.../ Ewige Ruhe schenke ihnen, o Herr...“ Es vergeht ein Moment, bevor ein Schrei aus der Stille herausbricht, welcher abklingt und wieder anschwillt wie eine Kerzenflamme, die im Wind flackert. „Lacrimosa“ beginnt ähnlich – das tiefe Grollen der Streicher, gefolgt von einem Signal der Blechbläser und letztendlich die wunderschöne Vokalise des Soprans. Alles schwillt an und ist dabei überraschend leicht und zuversichtlich.

Aus dieser Stille heraus tritt ein Soloquartett auf eine wunderschöne Art und Weise hervor(„Kyrie eleison...“). Die Gesangslinien durchkreuzen sich wiederholt: Erst der Sopran und der Tenor, dann der Bass und schlussendlich der Alt. Die Solisten werden vom Chor unterstützt, der das dramatische „Dies irae“ mit einem kraftvoll gesungenen „Christe eleison“ beginnt. Erwähnenswert ist das 1967 von Penderecki geschriebene kurze Oratorium „Dies irae“ aus Anlass der Enthüllung eines Denkmals für die Opfer des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Damals benutzte er den Text des biblischen Buches „Apokalypse“ (Offenbarung des Johannes) zusammen mit Fragmenten aus Werken von Aeschylus, Paul Valéry, Louis Aragon und Tadeusz Różewicz. Im „Dies irae“ des Requiems kommen keine Zitate vor, jedenfalls fürs Erste.

Das Markenzeichen des Komponisten ist es, andere Texte und fremde Melodien zu zitieren. Dieses Vorgehen steigert die Dramatik, gestaltet neue Zusammenhänge und schafft eine sorgfältig ausgearbeitete Struktur – darin ist Penderecki unübertroffen. Im „Credo“ können wir den Wechselgesang von „Du, der du für uns Wunden davongetragen hast“ und dem Lied „Volk, mein Volk“ hören; in dem zu Ehren des neugewählten polnischen Papstes geschriebenen „Te Deum“ (1980) die Hymne „Gott möge Polen retten“; in der „Lukas-Passion“ die Melodie „Heiliger Gott“. Im Polnischen Requiem bildet dieses letzte Gebet den melodischen Unterbau für den Teil „Recordare, Jesu pie“. Es ist einer der schönsten Teile des Werkes für einzelne Instrumente und Gesangslinien.

Der Komponist legte Gedanken über das „Sanctus“ für ein paar Jahre beiseite. Erst nachdem Polen vollständig unabhängig war, griff er auf diese Idee zurück. Dies könnte den merklich lobenden Ton erklären. Der Teil „Chaccone für Streicher“ ist düster und angsterfüllt. Das Licht kehrt im „Agnus Dei“ wieder und bleibt während des abschließenden „Libera me, Domine“ (in welchem die Motive aus „Dies irae“ und dem Lied „Heiliger Gott“ erneut gehört werden können). Das letzte Fragment ist aufrichtig, rein und unbelastet. Eine kurze Vokalise des Tenors (zu den Worten „misericordiam tuam“) sticht aus den leisen Klängen hervor, während Phrasen einsamer Instrumente zu einer Zusammenfassung der wichtigsten Themen führen. Das Stück endet mit dem Gebet „Fac eas, Domine.../ O Herr, lass sie vom Tod in das Leben übertreten.“ Dieses Flehen wird von Glockenklang begleitet.