1968 schien es unmöglich, eine Oper über Auschwitz zu komponieren. Obwohl viele Kompositionen sich direkt oder indirekt auf den Zweiten Weltkrieg bezogen (u.a. Dmitri Schostakowitschs Sinfonien, Krzysztof Pendereckis Todesbrigade, Threnodie – Den Opfern von Hiroshima , Polnisches Requiem, Luigi Nonos Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz, Arnold Schönbergs Ein Überlebender aus Warschau, Olivier Messiaens Quartet für das Ende der Zeit und Grigor Frids Das Tagebuch der Anne Frank), war es unvorstellbar, die Baracken von Auschwitz der unbestreitbaren Schönheit von Opernstimmen gegenüberzustellen. Und dennoch...

Die Passagierin wurde von Mieczysław Weinberg (1919-96) komponiert. Das Libretto stammt von Alexander Mewedew und basiert auf dem gleichnamigen Roman (1962) von Zofia Posmysz. Der in Warschau geborene Weinberg war ein polnischer Komponist jüdischer Abstammung, der 1939 in die Sowjetunion emigrierte und schließlich in Moskau starb. Seine Mutter war Schauspielerin, sein Vater Geiger. Weinberg sammelte seine ersten musikalischen Erfahrungen am Jüdischen Theater in Warschau, wo sein Vater arbeitete. 1939 floh er aus der Stadt. 1943 konnte er sich dank der Hilfe Dmitri Schostakowitschs in Moskau niederlassen. Ein Jahr nach Kriegsende wurde er beschuldigt, zu pessimistische Musik zu komponieren, die sich kaum auf Volkslieder beziehe. 1953 wurde er wegen seines „Jüdischen bourgeoisen Nationalismus” verhaftet, wurde aber erneut dank der Fürsprache Schostakowitschs zwei Monate später entlassen. Er begann, Filmmusik zu komponieren, beispielsweise für den Kriegsfilm Die Kraniche ziehen (Regie: Michail Kalatosow), welcher eine Goldene Palme bei den Cannes Filmfestspielen 1958 erhielt.

Weinberg vollendete Die Passagierin in 1968, erlebte die Premiere aber nicht mehr. Die KPdSU verbot die Aufführung der Oper, da die Szenen in Auschwitz zu viele Assoziationen zu sowjetischen Arbeitslagern (Gulag) hervorriefen. Die Passagierin wurde das erste Mal am 25. Dezember 2006 in einer konzertanten Version in Moskau aufgeführt, die erste szenische Aufführung (Inszenierung: David Pountney) fand am 21. Juli 2010 in Bregenz statt. Einige Monate später war die Oper in Warschau auf der Bühne zu sehen, Aufführungen in London, Houston, New York, Chicago, Detroit, Jekaterinburg und weiteren Städten folgten. Das Publikum reagierte überall mit absoluter Stille auf die Oper, erst nach einigen Momenten setzte stürmischer Applaus ein.

Zofia Posmysz, die Autorin des Romans Die Passagierin, war selbst eine KZ-Überlebende. Durch das Schreiben legte sie Zeugnis ab, allerdings erblickte ihre Geschichte erst nach mehr als 10 Jahren das Licht der Welt. Zuerst wurde ihr Hörspiel (Die Passagierin aus der Kabine 45, 1959) für das Fernsehen bearbeitet, später dann verfilmt. Die Regie führte Andrzej Munk, der 1961 bei einem Autounfall starb. Er konnte lediglich einen Teil des Skripts drehen (hauptsächlich die Kriegsszenen, gefilmt im Museum Auschwitz-Birkenau). Munks Mitarbeiter Witold Lesiewicz schnitt das Material. Es beinhaltet einen Kommentar des Poeten Wiktor Woroszylski, gespielt von Tadeusz Łomnicki. Die Premiere des Films fand am 20. September 1963 statt, dem zweiten Jahrestag des tragischen Todes des Regisseurs.

Die Handlung der Oper Die Passagierin (Zwei Akte bestehend aus acht Szenen und einem Epilog) spielt sowohl auf einem Ozeandampfer Anfang der 1960er Jahre als auch während des Zweiten Weltkriegs. Lisa und Walter, ein deutsches Paar, sind auf dem Weg nach Brasilien, wo Walter eine Stelle im diplomatischen Dienst antreten wird. Auf dem Schiff erkennt Lisa zwischen den Passagieren eine Frau names Martha – diese war in Auschwitz-Birkenau inhaftiert. Lisa war dort Aufseherin gewesen. Lisa ist zutiefst verstört, Martha zu sehen: Lange unterdrückte Erinnerungen holen sie ein und eine Ehekrise zeichnet sich ab, denn Lisa gesteht ihrem Mann, was sie während des Krieges getan hat.

Die Kriegsszenen drehen sich hauptsächlich um die Beziehung zwischen Lisa und Martha, sowie um die Beziehung zwischen Martha und einem anderen Häftling – Tadeusz. Außerdem erzählen sie eine Geschichte über Musik: Tadeusz ist ein Geiger, der den Lieblingswalzer des KZ-Kommandanten in einem besonderen Konzert spielen soll. In der vorletzten Szene kehrt die Handlung der Oper auf das Schiff zurück. Das deutsche Paar entscheidet sich, Martha und die Vergangenheit zu ignorieren. Allerdings gerät Lisa in Panik, als Martha den Lieblingswalzer des KZ-Kommandanten bei einer Tanzveranstaltung spielen lässt. Die letzte Szene spielt im KZ: Das Konzert findet statt und Tadeusz spielt statt des Walzers eine Chaconne von Bach – den Tanz des Todes…

Weinbergs Musik passt sich der Handlung an. Sie ist sehr divers: realistisch und symbolisch, intim und kraftvoll zugleich. Sie unterstellt eine gewisse Stimmung während der Unterhaltungen auf dem sonnenbeschienenen Schiff und eine andere, um die Hölle von Auschwitz zu übermitteln. Die KZ-Häftlinge haben unterschiedliche Nationalitäten; deshalb sind ihre Solo-Arien – wie das brilliante siebenstimmige Lied vom Leben und vom Tod – mehrsprachig. Besonders eindrucksvoll sind zwei Teile der Oper: Martas Arie in der sechsten Szene (zweiter Akt) und die gesamte achte Szene – die Überleitung vom Wiener Walzer zu Bachs Chaconne. Es mag nur jemandem wie Weinberg, der, wie David Pountney bemerkte, „sein ganzes Leben lang Musik in Erinnerung an geliebte, verlorene Menschen geschrieben hat“ möglich gewesen sein, solche Musik zu komponieren.

An dieser Stelle lohnt es, sich die Worte des französischen Philosophen Pascal Quignard ins Gedächtnis zu rufen, der sagte, dass Musik die einzige Art von Kunst gewesen sei, die mit den Nazis in den KZs kollaboriert habe. Tadeusz weigert sich, zu kooperieren und bezahlt dafür mit seinem Leben. In dem Augenblick seines Todes stimmt der Opernchor – ganz wie ein Chor ein einer griechischen Tragödie – das Requiem der Schwarzen Wand an (der Ort der Hinrichtungen in Auschwitz).
Schließlich folgt der Epilog: ein Lied – eine Nachricht von Marta, die am Fluss steht und sich an die Worte des Poeten Paul Eluard erinnert (diese sind der Sinnspruch der Oper): „Wenn eines Tages eure Stimmen verhallt sind, dann gehen wir zugrunde.” Die Welt soll nicht vergessen. Sie darf nicht vergessen. Wie der Titel von Luigi Nonos Werk verkündet: Erinnere dich, was sie dir in Auschwitz angetan haben.